Einige Argumente zur Verteidigung der KI, sie täte nichts zur Bekämpfung der Softwarekrise
Lena Bonsiepen
(erschienen in: FIFF-Kommunikation 1/90 1990)
Seit 30 Jahren sucht die »Künstliche Intelligenz« (KI) nach einer Definition ihrer selbst, bislang ohne rechten Erfolg. KI ist in erster Linie eie Ideologie, die ausgehend von der Grundannahme, daß kognitive Fähigkeiten symbolischen Berechnungen entsprechen oder zumindest durch sie simulierbar sind, sich definiert als »das Studium geistiger Fähigkeiten unter Verwendung von Berechnungsmodellen« (E. Charniak & D. McDermott). Wissenschaftliche Arbeiten dieser Ausrichtung bestehen aus meist undurchschaubaren Programmen, die für einen singulären Fall - einen Text, eine Planungssituation - mehr oder weniger erstaunliche Ergebnisse geliefert haben. Eine Wiederholung mit denselben oder anderen Daten ist selten möglich. Es ist zweifelhaft, ob die ideologisch ausgerichteten KI-ler durch ihre Programme dem Verständnis geistiger Fähigkeiten nähergekommen sind; sie selber betonen, daß ihr letztendliches Ziel - einen Menschen oder, bescheidener, ein Tier nachzubauen - in weiter Ferne liegt.
Die der Alchimie entwachsenen KI-ler streben nach einer Anerkennung als Technikwissenschaft, und suchen Ruhm und Geld durch industriell verwertbare Produkte. Dabei geraten sie mit den Ingenieuren der Informatik aneinander, die mehr Erfahrung mit Ingenieurs-Prinzipien haben. Beispiel: die Podiumsdiskussion zwischen Mark S. Fox (Carnegie Mellon Univ.) und David Parnas auf dem IFIP '89 Kongreß. Fox, der von der KI ausschließlich als einer Technologie spricht, versucht, seine Forschung zu rechtfertigen, indem er ihre Kernstücke aufzählt: die Suche nach schlauen Suchstrategien und nach reichhaltigen Wissensrepräsentationen. Parnas hält ihm entgegen, daß diese angeblichen Kernstücke der KI selbstverständliche Bestandteile der Informatik sind und deshalb ungeeignet, eine ausgezeichnete Wissenschaft oder Technik der KI zu definieren. Ich bin geneigt, mich Parnas' Schlußplädoyer anzuschließen, daß »es Zeit ist, daß sie (Wissenschaftler, die ihre Arbeit als KI beschreiben) sich von den irreführenden und übertriebenen Ansprüchen trennen, indem sie die in diesem Gebiet gebräuchliche hyperbolische Sprache aufgeben. Der erste Begriff, der abgeschafft werden muß, ist 'Künstliche Intelligenz'.«
Vorläufiges Facit: Die Ideologie KI kann keine Ergebnisse vorweisen. Die Technik KI hinkt anderen Techniken hinterher (siehe Schwierigkeiten, industrielle Standards auch nur wahrzunehmen) und gerät in Abgrenzungsschwierigkeiten.
Und dennoch bin ich angetreten, um Argumente zur Verteidigung der KI vorzutragen.
Andere haben es vor mir getan, z.B. die 'Stiftung Regenbogen', die den ersten Forschungspreis für die erfolgreiche Verhinderung technologischen Fortschritts an den Fachausschuß 'Künstliche Intelligenz und Mustererkennung' vergeben hat. Der Beitrag der KI zur Bekämpfung der Softwarekrise besteht nach Ansicht der Stiftung v. a. darin, daß »das befürchtete breite Eindringen von KI-Systemen in die Produktions-, Verwaltungs- und Kriegsautomatisierung ausgeblieben ist ...« sowie »über das faszinierende Thema Expertensysteme die deutsche Industrie nachhaltig von der systematischen Entwicklung einer schlagkräftigen Basissoftware-Technologie abgelenkt wurde ...« Mit anderen Worten: Bekämpfung der Software-Krise durch die Verhinderung des Einsatzes von Software.
Immer noch augenzwinkernd, aber ohne die Polemik der Stiftung Regenbogen, verteidigte ein anonymer Diskussionsredner bei der erwähnten Auseinandersetzung zwischen Fox und Parnas die KI so: das europäische ESPRIT-Programm habe bewußt keine ausgesprochenen KI-Projekte zugelassen, denn eine zu große Ansammlung von KI-lern ist fruchtlos oder gefährlich. Statt dessen verfolge man die Strategie, einzelne KI-ler auf Projekte zu verteilen, wo sie nützlich sein können.
Ich interpretiere: KI-ler sind phantasievolle Spinner, begeisterungsfähige, experimentierfreudige Kinder mit unkonventionellen Ideen, die verknöcherte und erstarrte Ingenieursgehirne anregen und befruchten können. Allein gelassen bauen sie Sandburgen oder, wie Alexis Sorbas, Seilbahnen für den Holztransport, die bereits beim dritten Versuch zusammenstürzen. Als Ideenlieferanten und Anreger unkonventionellen Vorgehens sind sie fruchtbar, wenn ihre Ideen auf ehrbare Ingenieure treffen, die die Ideen in industrielle Standards umformen können.
Dieses Argument zur Verteidigung der KI hat seine Faszination, soweit nämlich jeder in seiner (Arbeits-)Umgebung begeisterungsfähige, unkonventionelle Menschen schätzt.
Jedoch sind industriell verwertbare Produkte Ziel der unkonventionellen Projekte, und hier hat die KI bereits in eine ordnende und konventionen-fördernde Richtung gewirkt: Die anregende Vorstellung von Expertensystemen, die intelligente (Teil-) Aufgaben von Fachleuten simulieren können, hat zuallererst dazu geführt, daß solche Aufgaben überhaupt der Begierde der Programmierer zugänglich erschienen und sie sich an die Automatisierung dieser Aufgaben heranwagten. Das Ergebnis dieser Begierde ist die rationale Analyse komplexer Arbeitsprozesse und die Heraustrennung oder Konstruktion automatisierbarer Anteile, oder, wie Winograd & Flores argumentieren, die »Schaffung systemischer Bereiche«. Dies ist u. U. verbunden mit einer Neuorganisation des Arbeitsprozesses, mit einer größeren Ordnung und Kontrollierbarkeit der Tätigkeit und mit der Vernichtung anarchischer und kreativer Anteile. Ein weiterer Schritt zur Maschinisierung der Kopfarbeit. Dieses Ergebnis der Expertensystemtechnik kann nicht durch die Fliegenbeinzählerei von eingesetzten Expertensystemen à la Mertens, Feigenbaum u. a. aufgedeckt werden. Automatisierbare Anteile der Kopfarbeit werden konventionell programmiert, nachdem die Expertensystemtechnik durch Analyse und Ordnung den Weg bereitet hat. »Heiterer Anarchismus« für die Forschungsprojekte, zwängende Routine für die Arbeitenden.
Ein drittes Argument zur Verteidigung der KI - und diesmal ohne jedes Augenzwinkern: Die KI hat die Idee der Expertensysteme hervorgebracht. Expertensysteme waren ursprünglich ausgetüftelte Einzelwerke, Experimente, Forschungsobjekte. Industriell verwertbar können sie nur werden, wenn sie Ansprüchen genügen wie jedes andere Software-Produkt auch: Ansprüchen nach Zuverlässigkeit, Korrektheit, Wartbarkeit. Es ist bekannt, daß sie sich diesen Ansprüchen beharrlich widersetzen, und deshalb der Erfolgszug durch Fabriken und Büros stagniert oder - wie oben argumentiert - sich nicht unmittelbar umsetzt.
Das was möglicherweise allein von den Expertensystemen übrig bleiben wird, ist eine nachhaltige und positive Veränderung der Auffassung, was den Prozeß der Softwareentwicklung ausmacht.
Anstatt noch einmal die Besonderheiten der Expertensysteme als programmierten Heuristiken hervorzuheben, will ich hier die Ähnlichkeiten zu konventionellen Programmen und ihrer Entwicklung ausleuchten.
- Mittels Expertensystemen sollen komplexe geistige Arbeitsprozesse programmiert werden. Das ist nichts Neues, die Programmierung von Expertentätigkeiten gibt es auch ohne KI (z.B. Buchhaltungsprogramme, Entscheidungstabellen, Simulationsprogramme).
- Die Programmiertechnik (meist Regelsysteme) kann mit gutem Grund als neu entdeckte, nicht unbedingt bessere Programmiersprache gesehen werden.
- Die 'Wissensakquisition' wird als komplizierter Prozeß beschrieben, in dem sorgfältige Befragungen des oder der Experten stattfinden, Prototypen geschaffen werden, Fallbeispiele gesucht und genutzt werden. Ist dies so verschieden von dem, was der Spezifikation eines konventionellen Software-Produkts vorausgeht, oder sind nicht Prototypen und Zyklenmodelle längst Bestandteil der Software-Technik?
- Die geforderte Qualifikation des 'Wissensingenieurs' - eine Mischung aus Wissenschaftler, Ingenieur und Psychologe - stünde jedem Softwareentwickler nicht schlecht zu Gesicht.
- Ein Expertensystem ist qua definitione niemals fertig - Konsequenz der Programmierung von Heuristiken, die nicht spezifizierbar sind. Aber auch ein konventionelles Programm ist schwerlich als fertig zu bezeichnen: Wartung umfaßt nicht allein die Beseitigung noch entdeckter Fehler, sondern auch die Anpassung des Programms an nicht vorhergesehene, nicht spezifizierbare Situationen.
Ich wage den Schluß: Expertensysteme unterscheiden sich nicht wesentlich von konventionellen Programmen. Warum also nicht, statt allein die Einhaltung von Software-Techniken bei Expertensystemen zu fordern, umgekehrt Einsichten aus der Expertensystem-Programmierung für die Software-Produktion nutzen?
Danach ist Software-Entwicklung ein niemals beendeter, inkrementeller Prozeß des Entdeckens und Konstruierens.
Als Konsequenz ergibt sich der Niedergang verschiedener Dogmen:
- Das Dogma der prinzipiellen Möglichkeit fehlerfreier und zuverlässiger Software-Produkte. Dies impliziert die Forderung nach einer Gestaltung des Software-Einsatzes, in der Fehler der Programme durch kompetent und verantwortlich mit ihnen arbeitenden Menschen aufgefangen werden können.
- Das Dogma der vollständigen Spezifizierbarkeit von Programmen. Die Fakultätsfunktion ist spezifizierbar - aber welchen prozentualen Anteil haben derartige Funktionen in modernen interaktiven Programmen?
- Das Dogma der Software-Entwicklung als eines formalen oder mit formalen Methoden beschreibbaren Prozesses.
Eine veränderte Sicht der Software-Entwicklung wird von anderen bereits seit geraumer Zeit diskutiert und probiert. Sollte die Expertensystemtechnik dazu beitragen, eine solche Veränderung zu befördern, halte ich die KI für hinreichend rehabilitiert, nicht als Wissenschaft, aber als Lieferanten von Ideen und Zündstoff.